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Abfahren und Ankommen

Eine Kurzgeschichte

Created by Jessica Skowron

Der Mensch lebt in einer Scheinwelt. Das, was er in den sozialen Medien gezeigt bekommt und aufnimmt, projiziert er auf sein eigenes Leben. Dadurch bestimmt sich sein Wert. Er nimmt im Alltag viel zu oft nicht wahr was ist, sondern, was ihm vorgegeben wird. Seine individuelle Wahrnehmung wird durch seine Umwelt gefiltert und durch seine Umgebung geprägt. Der Mensch ist permanent unterwegs, denn es fällt ihm schwer, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich seiner Selbst, ebenso wie seiner natürlichen Umgebung bewusst zu sein: Ständig vermischen sich auf diese Weise Realität und Virtualität.

Ich gehe den immer gleichen Weg: Da vorne rechts abbiegen und an der nächsten Kreuzung links. Ich setzte mich in die Bahn, wie immer mit ausreichend Abstand zu anderen. Zwei Stunden später werde ich am Ziel ankommen. Endlich habe ich meine Ruhe und nehme mein Handy zur Hand: Wetter? 26° C, teilweise bewölkt. Mails? Fünf ungelesene, davon drei Newsletter. Posts von Freunden? Sie ist shoppen, sie verbringen den Tag am See, er zockt, …

Plötzlich ertönt ein Pfeifen. Es gibt einen sachten Ruck und der Zug rollt aus. Das ist ungewöhnlich. Wir können noch nicht am Ziel sein. Wo sind wir? Ich versuche meine Position zu orten, aber die Verbindung scheint abgebrochen. Ich habe kein Netz mehr. Zuordnen kann ich die Umgebung nicht, habe noch nie darauf geachtet, mich bloß immer darüber geärgert, dass die Fahrt so lange dauert. Und zugleich jedes Mal gewundert, wie schnell die Fahrzeit vergeht, während ich im Internet unterwegs bin.

Ich werfe einen neugierigen Blick aus dem Fenster: Es ist kein Bahnhofsschild zu sehen. Jedoch bin ich überrascht von dem, was ich erblicke. Ich verliere mich in dem, was ich sehe und frage mich, warum ich meine Umgebung während der Fahrt noch nie in Augenschein genommen habe, als mich eine Durchsage aus meinen Gedanken reißt: „Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund einer technischen Störung ist eine Weiterfahrt nicht möglich. Wir bitten Sie das Fahrzeug zu verlassen.“ Außer mir sind noch zwei Familien in meinem Abteil. Gemeinsam gehen wir hinaus auf den Bahnsteig des seit vielen Jahren außer Betrieb genommenen Bahnhofs. Es wirkt als wäre der gesamte Ort stillgelegt. Bis auf die unüberhörbare Aufregung einzelner Fahrgäste liegt eine Stille in der Luft, die ich so gar nicht gewohnt bin. Ich bin überwältigt. Verwundert drehe ich mich im Kreis. Wir werden aufgefordert Ruhe zu bewahren und uns zu gedulden, bis das Problem gelöst wird. Ich prüfe meine Internetverbindung: Nichts, kein Netz.
Ich entferne mich etwas von der Menge. Mir gefällt, was ich sehe, wenn ich mich umschaue. Ich kann mir vorstellen, wie es hier früher einmal ausgesehen hat. Was ist mit diesem Ort geschehen? Wo sind die Menschen hin?

Ich lege mich in das einladend saftig grüne Gras. Ich kneife die Augen zum Schutz vor der Sonne zusammen. Leicht drehe ich meinen Kopf zu Seite und blinzle: Der Himmel scheint so hell und klar, wolkenlos, blau und hoch in scheinbar unendlicher Weite über mir. Bäume und Gebirge erahne ich in der Ferne am Horizont. Ich genieße die Sonnenstrahlen auf meiner Haut, nehme die Wärme wahr und auch den leichten Windhauch, der mir trotz der warmen Temperatur eine Gänsehaut beschert. Im Hintergrund höre ich Kinder und Vögel, es fällt mir schwer die Geräusche genau zuzuordnen. Beide Stimmen sind so rein und so lebensfroh. Sie wirken unfassbar nah und dennoch in ihren Lauten unverständlich weit weg für mich. Ich liege da und spüre den Erdboden unter mir - genieße den Kontrast der Wärme von oben her und die angenehme Kühle aus der Tiefe des Bodens sowie die frische Brise des Windes um mich herum. Ein paar Grashalme streicheln meine Oberarme. Ein frischer Duft kitzelt in meiner Nase. Ich spüre den Sommer. Nehme wahr wie es blüht, wie es summt und wie ich Teil der Natur werde, als ein Marienkäfer meine Hand hinaufkrabbelt. Ich fühle mich so lebendig. Ich bin ich selbst. Hier an diesem Ort. In diesem Augenblick.

Ich weiß nicht, wie lange ich so daliege und die Natur bewusst mit allen Sinnen wahrnehme, als ich aus der Ferne ein nur allzu vertrautes Geräusch - Verkehrslärm - höre. Es ist mittlerweile gelungen Hilfe zu organisieren und eine Möglichkeit von hier wegzukommen. Ich frage mich, wie viel Zeit vergangen ist, doch mein Smartphone ist ausgegangen, ich bekomme es nicht mehr an. Der Akku muss leer geworden sein auf der ständigen Suche nach Empfang. Während ich mich erholt habe, abseits von Lärm und Funkverbindungen, hat mein Smartphone vergeblich sämtliche Kräfte aufgebraucht, um sich zurechtzufinden.
Bevor die Sonne untergeht machen wir uns auf den Weg. Jetzt nehme ich die Umgebung wahr, versuche mich zu orientieren. Ich überlege, was dies für Orte sind und was ihre Bewohnenden tun. Ich denke darüber nach, was ich tun würde, wenn ich hier leben würde. Der Bus nimmt die nächste Abfahrt. Wir passieren mein Wohngebiet. Aus nahezu allen Fenstern flackern bewegte bunte Lichter. Außer zwei Personen mit Hunden sehe ich keine Menschen draußen.

Wir halten an, ich steige aus und laufe nachhause. Oftmals telefoniere ich unterwegs. Der routinierte Griff in meine Hosentasche und die Erinnerung, dass mein Handy aus ist, erinnern mich daran, dass ich wahrscheinlich heute zum ersten Mal etwas Aufregendes zu erzählen hätte. Sonst tauschen wir uns über belanglose Dinge aus, reden hauptsächlich darüber, was wir für Posts in den sozialen Medien entdeckt haben.
Zuhause angekommen, lade ich mein Handy auf. Nach einer Weile prasseln Nachrichten ein, nachdem ich den ganzen Tag über keine empfangen hatte. Bestimmt werde ich Stunden damit verbringen alles nachzuholen und Freunde sowie Verwandte beruhigen müssen. Ich sehe es schließlich als meine Verantwortung erreichbar zu sein. Aber ich frage mich auch, wo meine Realität ist. Ich habe heute einen wunderschönen Tag allein verbracht. Habe die Umwelt um mich herum bewusst wahrgenommen und erlebt. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass das Abfahren für mich ein Ankommen war.