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Vogelperspektive

Eine Kurzgeschichte

Erstellt von Jan Skowron

Ich sitze auf einer Parkbank. Die Sonne scheint und ich spüre die warmen Strahlen in meinem Gesicht, während ich die Augen schließe und den Vögeln beim Singen zuhöre. Riesige Kastanienbäume stehen unweit entfernt von mir und ragen mit ihren ausladenden Kronen weit von mir fort. Manche der Äste neigen sich unter ihrem hohen Gewicht weiter nach unten als andere. Trotzdem sind an diesen schweren Ästen Zweige zu sehen, die sich nach oben strecken und ihre Blätter zur Sonne stellen, so als wollten sie eigentlich woanders sein. Obwohl der kleine Park inmitten der Stadt ist, ist es ziemlich ruhig. Normalerweise stört das Dröhnen lauter Autofahrer mit ihren Luxusfahrzeugen die Ruhe, aber sie scheinen heute nicht unterwegs zu sein. Es zwitschert ganz in meiner Nähe und ich drehe den Kopf, kann aber keinen Vogel sehen. Wie so oft ist der Versuch die singenden Vögel in den Bäumen auszuspähen nicht von Erfolg gekrönt. Während ich so sitze, versuche ich mir vorzustellen, wie der singende Vogel mich beobachtet. Meinen Blick auf den Baum geheftet, versuche ich mir das innere der Baumkrone aus der Sicht des Vogels vorzustellen. Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass es kleine bewusste Veränderungen in der Wahrnehmung bedarf – Perspektivenwechsel – um mit sich selbst klarer zu werden und Probleme zu lösen. Meine Gedanken rennen wie so oft, aber ich versuche an der Perspektive des Vogels dranzubleiben. Irgendwo in der großen Verzweigung, zwischen Blättern und Zweigen, hat er sein Nest. Der Baum umgibt es. Es ist seine Wohnung im Haus des Baumes. Der Vogel hat sicherlich auch Nachbarn über deren Lärm er sich nachts beschwert. Ich muss ein bisschen schmunzeln bei dem Gedanken. Ob Vögel nachts Party machen? Ein Nest neben dem anderen. Da kommt es sicher manchmal zu Streit. Jeder mit seinem Raum, seinem Revier. Ein bisschen so wie wir.

Die Menschen, die teilweise Hand in Hand an mir vorbeilaufen, genießen – so wie ich – die Sonne und die Ruhe. Ein älterer Herr läuft an mir vorbei und pfeift zufrieden – ich kann es ihm nicht verübeln. Ich höre das Lachen von Kindern und sehe die verliebten Blicke der vorbeilaufenden Paare. Ein anderer scheint – so wie ich – gerade über das Leben nachzudenken, schaut mal in den Himmel, mal auf den Boden und geht seiner Wege. Die Vögel in dem Kastanienbaum mir direkt gegenüber teilen sich den Baum. Sie leben gemeinsam in ihm. Eine riesige WG. Was teile ich mit den Menschen, die hinüberziehen an mir und meiner Welt? Ich zweifle daran, dass das die richtige Frage ist, da der Mensch an der Welt vorbeizieht und nicht andersherum. Mir kommt der Gedanke, dass es mit dem Baum und den Vögeln genauso ist: Wenn die Vögel nicht mehr in ihm leben, sie das Nest verlassen und sich einen neuen Ort suchen, wird der Baum immer noch da sein. Und wenn das so ist, teilen sich nicht die Vögel den Baum, sondern der Baum teilt sich mit den Vögeln.

Langsam neigt sich die Sonne hinter den Dächern der Stadt, es wird Abend und einige der Leute machen sich auf den Heimweg. Aufbruchsstimmung liegt in der Luft. Ich selbst bleibe noch einen Moment, weil mir bewusstwird, dass der Baum auch noch da sein wird, wenn ich nicht mehr lebe. Das gleiche gilt für alles, was mich umgibt. Mit dem Abziehen der Menschen wird das Zwitschern der Vögel in meinen Ohren wieder lauter. Diesmal kann ich sogar einen zwischen den Ästen sehen.